Pinar Selek – Autorin des Buches ‚Zum Manne gehätschelt – Zum Mann gedrillt‘ in der Türkei gegenwärt

Pinar Selek: Autorin des Buches: ‚Zum Mann gehätschelt – zum Mann gedrillt‘ – wird am kommenden 28. September 2011 erneut angeklagt wegen eines Bombenattentats – von dem sie aber bereits mehrfach freigesprochen wurde.

Im Folgenden eine Kurzinformationen und eine Buchbesprechung:
‚Zum Mann gehätschelt – Zum Mann gedrillt; Orlanda Frauenverlag 20100; 18,50
Kurzinformation:

Die 1971 geborene Pinar Selek studierte an der Mimar-Sinan-Universität Soziologie, wo sie im Jahr 1996 ihr Abschlussexamen ablegte. Bereits seit ihrem Studium befasste sie sich fortlaufend nicht nur in ihren theoretischen Arbeiten sondern auch mit sozialem Engagement mit benachteiligten Randgruppen der Gesellschaft, wie Straßenkindern, Sexarbeiterinnen, Homosexuellen, sowie ethnischen Minderheiten wie KurdInnen und ArmenierInnen. Sie gehört zu den Gründerinnen des feministischen Netzwerks Amargi, unterstützt zahlreiche NGOs und andere Gruppierungen, die sich dem Kampf für Frieden, Antimilitarismus und Menschenrechte widmen und gehört dem Amargi Feminist Theory Journal an. Des Weiteren hat Selek mehrere Publikationen veröffentlicht, zuletzt erschien im Jahr 2008 ihr Buch „Sürüne Sürüne Erked Olmak“ (Zum Mann gehätschelt, zum Mann gedrillt, Berlin, Orlanda Verlag 2010), in dem sie die Rolle des Militärs bei der Herausbildung männlicher Identitätscharakteristika untersuchte.

Als Kritikerin des türkischen Militärs und als engagierte, aber strikt gewaltfreie Befürworterin einer neuen Politik der Türkei gegenüber dem kurdischen Volk sollte Pinar Selek zum Symbol und zur Abschreckung für alle diejenigen dienen, die es wagen, sich mit Militärthemen oder der Behandlung von ‚Randgruppen‘ in der Türkei auseinander zu setzen:
Der Fall Pinar Selek ist an Absurdität kaum zu übertreffen: Sie wird ohne Beweise angeklagt, am 9. Juli 1998 auf dem Istanbuler Gewürzbasar eine Bombe gelegt zu haben und des weiteren, in enger Verbindung mit der PKK zu stehen. Die Explosion auf dem Basar, bei der sieben Menschen zu Tode kamen und über 30 verletzt wurden, erweist sich später durch verschiedene Gutachten als durch eine undichte Gasflasche hervorgerufener, tragischer Unfall. Die einzige Anklage gegen Selek stützt sich auf die Zeugenaussage von einem Zeugen, der seine Aussage, mit Selek zusammen eine Bombe gezündet zu haben, vor Gericht widerrief und erklärte, die Aussage unter schwerer Folter gemacht zu haben.

Selek selbst hat zweieinhalb Jahre in Untersuchungshaft gesessen und wurde wiederholt gefoltert.
Nach verschiedenen Wiederaufnahmeverfahren durch die türkische Staatsanwaltschaft und ebenso vielen Freisprüchen lebt Pinar Selek seit über einem Jahr in Berlin, ist Stipendiatin der Writers-In-Exile-Kampagne der PEN-Vereinigung und wird außerdem von der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt. Die Forderung nach sofortiger Aufhebung der letzten Anklage wird unterstützt von bisher über 5.000 Persönlichkeiten, darunter Herta Müller, Judith Butler, Elfriede Jellinek und Fatih Akin. 36 BeobachterInnen aus 21. Verbänden und NGOs werden zum Gerichtstermin in Istanbul anreisen.
Pinar Selek selbst bleibt trotz aller Strapazen zuversichtlich hinsichtlich eines erfreulichen Ausgangs des Prozesses: „Ich bin recht optimistisch, dass wir gewinnen werden“. Die öffentlichen Diskussionen um den Prozess seien letztendlich auch ein Symbol für einen bahnbrechenden Transformationsprozess in der türkischen Gesellschaft, der zu einer offeneren und freieren Türkei führen könne. „Ich glaube, dass wir die symbolische Auseinandersetzung schon jetzt gewonnen haben“, erläuterte sie weiter, „denn die absurde Vorgehensweise des Staates haben wir für alle sichtbar entlarvt.“

Das Solidaritätskomitee Pinar Selek (Frankreich) ruft zu großer Wachsamkeit auf, insbesondere was den Termin am 28. September betrifft! Pinar Selek ist nicht allein!
(Solidaritätskomitee Pinar Selek, Frankreich)

Buchbesprechung Pinar Selek –„Zum Mann gehätschelt – zum Mann gedrillt“

Pinar Selek beschäftigt sich mit feministischem Blick im vorliegenden Buch mit der Rolle der (türkischen) Militärs bei der Herausbildung männlicher Identitätscharakteristika. Dazu führte sie Interviews mit türkischen Wehrleistenden durch.
Ihre Absicht ist es, einen „Blick hinter die Mauer der Männlichkeit“ zu werfen.

Als erstes Männlichkeitsritual stellt sie in ihrem Buch eine Beschneidungsszene dar:
„der Raum ist voller Menschen. Viel zu viele für ein Kind. Verwandte, Nachbarn, sie alle haben sich im Wohnzimmer versammelt. Es wird gefeiert, es ist zu laut.
Ab und an kommt sein Vater und kloppft dem Kind auf die Schulter. Kurz vorher hatte er mit ihm darüber gesprochen: Da passiert nichts Schlimmes. Hab bloß keine Angst. Alle Männer machen das durch. Auch du wirst jetzt zum Mann. Zu einem richtigen Mann.
Es ist Kemals Mannwerdung, die hier gefeiert wird.
Wenig später wird er zu einem richtigen Mann werden. Mithilfe eines Messers.
Seine Augen suchen seine Mutter. Nimet Hanim läuft geschäftig hin und her. Aber jedes Mal, wenn sich ihre Blicke treffen, nimmt sie ihn in die Arme und sagt: ‚Mein Junge, mein Löwe.‘
Dem Löwen Kemal hat man ein Sultanskostüm angezogen. In der Hand hält er ein Zepter. Er selbst fühlt sich aber gar nicht wie ein Sultan. Wie fühlen sich eigentlich Sultane? Seine Gedanken kreisen nur um seinen Pullermann. Ob Sultane immer so an ihren Pullermann denken müssen? Wird man so zum Mann? Bedeutet Männlichkeit, den ganzen Körper nur auf den Pullermann zu verkleinern?
Schon seit einer Weile ist ihm aufgefallen, wie wichtig sein Pullermann, den er normalerweise nur beim Pipi machen, seit einiger Zeit aber auch sonst mit wachsendem Vergnügen berührt, für die anderen ist. Ständig erfährt Kemal Neues über dieses Ding, das ihn von den Mädchen unterscheidet. Er lernt zum Beispiel Flüche, die es umkreisen und das verändert seine Beziehung zu ihm mit jedem Tag. Er spürt auch, dass dieser ‚Auswuchs‘ zu einer unheimlichen Waffe gegenüber anderen werden kann. Dass zwischen seien Beinen eine Art Macht verborgen liegt. … Erst vor kurzem hat seine Mutter ihm einen anerkennenden Klaps auf die Schultern gegeben, weil sein Pullermann so besonders groß ist.
‚Mein Sohn, mein Löwe‘ hat sie gesagt.
Kamal ist stolz auf seinen Pullermann.
Und jetzt? Würden sie vielleicht einen Teil seiner Ehre abschneiden? Und wenn sie etwa zu viel abschnitten…? Nein. So, wie die ringsum Versammelten aussehen, wird er heute stärker und kräftiger. Sie alle haben sich wegen Kemals Pullermann versammelt. Wegen seiner Männlichkeit.
Wenn er die Schmerzen aushält, wird Kemal zum Mann. Und sein Pullermann wird, wenn man ihn beschneidet, wachsen.

Kemal fährt mit der Hand über das Sultanskostüm und strafft stolz seinen Rücken. Mutlosigkeit und die Angst in seinem blick überdeckt er mit einer gebieterischen Sultansmiene. … Er versteckt sie. So begrüßt er seine Männlichkeit.“ (S. 21/22)

Nach der Schilderung der Beschneidungsszene wendet sich Selek dem Militär zu, dem zweiten Männlichkeitsritual: nach dem Hätscheln der Drill
„Während ihrer Zeit in einer staatlichen, ausschließlich von Männern besetzten Militäreinheit lassen Millionen junger Männer (…) ihr bisheriges Leben hinter sich, um mit ihren Geschlechtsgenossen ein Lagerleben in einer ‚dumpf dröhnenden Männerbündelei‘ zu führen. Hier wird jugendliche Erregung eiserner Disziplin untergeordnet und männliches Begehren ‚gezähmt‘.“ S. 29

Unter der Überschrift ‚Das geht schon wieder vorbei – heul nicht‘ zitiert sie einen Mann, der über seine Musterung berichtet:
Bei der Gesundheitsüberprüfung, in der er sich als ‚kerngesund‘ bezeichnet, wird auch seine ‚Männlichkeit‘ in Augenschein genommen:
„Und Entschuldigung, aber dann haben sie mein Ding untersucht. Sie haben uns nicht nackt ausziehen lassen, sondern wollten nur, dass man die Unterhose lüftet. Ich habe sie nicht runtergezogen, und so haben sie von oben reingeschaut und gesagt: ‚Okey‘. Sie haben bei allen nachgeschaut.‘ “ S. 43
Da ‚das Ding‘ stimmt, darf der junge Mann als Wehrdienstleistender zum Militär.

Selek nennt die folgende Militärausbildung: ‚Das Schmoren in einem Topf‘
Wichtigstes Gerät dabei ist natürlich die Waffe: „In der Regel ruft die Waffe, die dem Mann als seine ‚Ehre‘ anvertraut und als als ‚seine Frau‘ präsentiert wird, bei den unterschiedlichen Männern Begeisterung hervor, (…).“ , S. 99
Zitat eines interviewten Wehrdienstleistenden
„Die Waffe wird beschützt, wird immer gut in Schuss gehalten, sie wird niemals einem anderen in die Hände gegeben. Gibt man etwa seine Frau einem anderen, vertraut man sie einem anderen an? Also gibt man auch seine Waffe nicht weg.“, S. 100

Die Waffe als Besitz, wie die Frau, die Waffe als Phallussymbol, als ‚zweite Frau‘ – die Geschlechtersymbolik ist unübersehbar.

Und natürlich gehört zum ‚Garkochen‘ auch die Idealisierung der ‚Manneszucht‘, die Unterwerfungsdisziplinierung und Männerherrschaft in einem darstellt.
So soll etwa der Kampf gegen die PPK zur Erhöhung der eigenen Wertschätzung dienen. Statt des Wehrdienstes können die jungen Männer auch zum Kampf gegen die PKK antreten.
„Wenn wir kämpfen würden, würde man uns auch wertschätzen. Selbst wenn man keinen Rang hat, ist man doch etwas wert, wenn man eine Waffe in der Hand hat. (…) Man bläst sich richtig auf … man sagt, der Feind ist eben der Feind. – S. 187 u. 189
Tapferkeit, Kampfesmut und gemeinsame Vergnügungen haben das Ziel – wie bei der Beschneidung – Angst und Hoffnungslosigkeit zu übertünchen, zu unterdrücken.
Zu den ‚Mannesvergnügungen‘ gehören dann selbstverständlich auch gemeinsame Besuche in Bordellen und das Einladen von Striptease-Tänzerinnen in die Kasernen.
Die Soldaten schildern auch hier die Widersprüchlichkeit der Situation: Der Beweis von viriler Männlichkeit, die sexuelle Benutzung von Frauen ist gepaart mit der Angst vor der Impotenz, dem Versagen als ‚Mann‘.

Und wenn dann schließlich der Wehrdienst beendet ist, wenn Familie, Frau oder Freundin zusammen mit den Freunden am Kasernentor warten, machen sich Vorgesetzte ein Vergnügen daraus, dem zu Entlassenden noch einmal die Macht spüren zu lassen. Ein Kommandant sagte
‚Dir brumme ich eine Strafe auf, du gehst nicht‘.(…) Ich lief vor meiner Stube auf und ab. Der Kommandant sagte: ‚Na los, du kannst gehen (…)Na los, Mistkerl, verfick dich‘.“

Wieder im Zivilleben zurück, fühlen sich die Einen erleichtert, die Anderen fühlen sich gereift und nun wirklich zum Manne geworden.
Alle aber haben – mehr oder weniger begeistert – autoritäre Strukturen verinnerlicht:
„“Ich hatte mich an den Ausdruck ‚Herr Kommandant‘ gewöhnt. Ich bin in die Schule gegangen und habe den Direktor mit ‚Herr Kommandant‘ angesprochen. Er sagte: ‚Das ist hier nicht die Armee.‘ Und ich erwiderte: ‚Entschuldigen Sie, Herr Kommandant‘.
„Wenn mein Vater mich rief, antwortete ich mit: ‚Zu Diensten, Herr Kommandant.“ – S. 205

Abschließendeine Einschätzung von Pinek:
„Männer, die Ehrenmorde begehen, die Blutrache üben, die ihren Söhnen und Töchtern verschiedenste Verbote aussprechen, die ihren Ehefrauen und Freundinnen vorschreiben wollen, wie sie sich zu benehmen und aufzutreten haben, die jederzeit bereit sind, sich aus verschiedensten Gründen zu schlagen und zu streiten, sind auf alle diese Aufgaben noch besser vorbereitet, wenn sie erst einmal gelernt haben zu kämpfen.“ S. 217