Hanau – ein Jahr danach – Wir erinnern, mahnen und wollen nicht vergessen!

Bei der Gedenkkundgebung am 19.2.21 hielt Brunhild folgenden Beitrag für das Friedensbüro:

Wir wollen einerseits betonen, dass Hanau leider kein Einzelfall ist und andererseits Grundsätzliches zu Rassismus und Rechtsextremismus und deren mörderischen Folgen betonen:
Der Mörder in Hanau kam aus der Nachbarschaft. Er erschoss 10 Menschen – neun davon aus rassistischen Gründen. Ganz offenbar war er psychisch gestört – aber – erklärt oder entschuldigt das seine Tat? Ganz sicher nicht. Vielleicht spiegelt diese Tatsache wider, was Rassismus und Rechtsextremismus in einer Gesellschaft bei ohnehin labilen Menschen anzurichten in der Lage sind: sie schlimmstenfalls zu Gewalt und Mord führen.

Aber auch, wenn ihre Erscheinungsweisen ‚klein‘ oder ‚akademisch‘ erscheinen wie bei Sarrazin (etwa seine These über ein spezifisches ‚jüdisches Gen‘), nähren und füttern sie Rassismus in der Gesellschaft. So gehörte die Veröffentlichung (Deutschland schafft sich ab‘) zur Lektüre des Mörders. Wir müssen uns deshalb immer wieder mit offenem und (auch) verstecktem Rassismus und Rechtsextremismus beschäftigen, mit deren Wurzeln und der Frage, wie wir eine humane Gesellschaft für alle Menschen schaffen können. Denn wir wollen nicht, dass neu zu uns gekommene Menschen sich in unserer jetzt gemeinsamen  Heimat ausgegrenzt und gar tödlich bedroht fühlen müssen. Alle  sollen  bei uns sicher, akzeptiert und eingebunden sein, unabhängig von ihrer Herkunft, der ihrer Eltern oder ihrem Aussehen.

Wir wollen die Namen der Ermordeten sagen und in Erinnerung behalten:
‚Say their names!‘  !!!
Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi und Fatih Saraçoğlu. Doch da fängt bei mir das Problem schon an: Viele von uns können diese Namen nicht  aussprechen. Das muss sich ändern – wir haben ja auch gelernt, englische Namen auszusprechen.
Wichtiger als die Auflistung der Namen aber ist es, dass aus ‚Opfern‘ Menschen werden: Ich habe bei mir selbst in der Auseinandersetzung mit den Morden und vor allem mit dem Leben der Ermordeten in den letzten Tagen gemerkt, dass durch das Wissen über ihre Lebensläufe, das Hören ihrer  Stimmen und Mitteilungen über ihre charakteristischen Eigenschaften, diese zu Menschen wurden, die es zu betrauern gilt. Dass sich eine stärkere Empathie entwickelte. Und Betroffene betonen immer wieder: Bitte stellt die Opfer in den Mittelpunkt, nicht den Mörder! Ich füge hinzu: Wir trauern um Menschen, die leben wollten!

Dennoch müssen wir den Blick auch auf den Mörder richten
. Nicht aus Sensationslust, sondern um zu kritisieren, dass es deutliche  Warnsignale des Mörders (und seines Vaters) vor den Morden gab, die aber von staatlicher Seite nicht hinreichend ernst genommen wurden.  Behörden, aber auch das soziale Umfeld  müssen hellhörig werden und handeln, wenn Menschen starke psychische Auffälligkeiten verbunden mit Rassismus zeigen. Es gab verschwörungstheoretische   Strafanzeigen des Mörders und seines Vaters an verschiedene Behörden, z. B. „durch die Wand und durch die Steckdose abgehört, belauscht und gefilmt“ zu werden. Oder ‚Hinweise‘ des Täters auf „ständige Ausländerkriminalität“ und die Interpretation seiner  beruflichen Entlassung als Benachteiligung „seine(r) Rasse als Bestandteil des Deutschen Volkes“. Da hätten staatliche Instanzen hinhören und handeln müssen! Das BKA sprach (hinterher!) in verschiedenen Berichten einerseits von Rassismus und Rechtsextremismus, leugnete dies aber in anderen Veröffentlichungen.

Es muss auch gesagt werden, dass die Behörden in Hanau vor und nach den Morden inkompetent reagierten. Nach wie vor ist die Frage nicht beantwortet, warum die Morde an verschiedenen Orten in Hanau nacheinander passieren konnten. Viele Tatzeug*innen versuchten über den Notruf weitere Morde zu verhindern. Dies gelang nicht. Erst nachdem das neunte Opfer erschossen war, reagierte die Notrufzentrale. Warum nicht vorher?
Bei der Durchsuchung der Wohnung des Mörders fand die Polizei massenhaft Waffen und ein Bekennerschreiben. Der Mörder hatte an Gefechtsübungen in der Slowakei teilgenommen, war dort z. T. auffällig geworden: Was wussten die Behörden? Warum verlief das Alles folgenlos?

Wir, die wir der ermordeten Menschen in Hanau gedenken, wollen uns der Trauer und dem Gedenken an die ermordeten Menschen (auch in vielen anderen Städten) anschließen und sie so ‚am Leben erhalten‘. Nach den Morden trafen sich Freund*innenkreise der Ermordeten an den Tatorten und trauerten gemeinsam und tauschten persönliche Erinnerungen an die Mordopfer aus. Dabei ging es auch darum, der medialen Fixierung auf den Täter entgegenzutreten. Es fanden verschiedene Trauerfeiern statt, z. B. organisiert vom Kurdischen Kulturverein und mitgetragen von Moschee-Gemeinden und Migrant*innenvereinen. Vor rund 400 Teilnehmern nannte die Sprecherin Newroz Duman Hanau die „Stadt der Migration“ und sprach die Angst der Migrant*innen aus: „Bin ich vielleicht die Nächste, weil ich schwarze Haare habe? […] Ich bin Hanauerin, Wir sind Hanauer, wir haben das hier mit aufgebaut, das Leben hier.“
Die Angehörigen der Ermordeten fordern: „Erinnerung, Gerechtigkeit. Aufklärung und Konsequenzen“ Dem schließen wir uns an.

Und fügen hinzu:

  • Rassismus, Vernichtungsphantasien, Verschwörungstheorien, Verfolgungswahn und Frauenhass sagen wir weiterhin den Kampf an.
  • Sie sind Teil eines offenen oder latenten Faschismus, den wir überall und in jeder Form bekämpfen wollen. Wir erwarten, dass auch staatliche Behörden entsprechend sensibel eingreifen!
  • Menschen, die als Freund*innen zu uns kommen, sollen bei uns eine ‚Heimat‘ finden, nicht ausgegrenzt werden. Ausgrenzung und Diskriminierung können zu Hass, Gewalt und Mord führen!