Nachwuchsprobleme der Bundeswehr – und die militär-politische Antwort: Militarisierung des Zivilen

eine Rezension von Heinz-Jürgen Voß (Erstveröffentlichung auf kritisch-lesen.de)

An der Heimatfront

Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr

Der freiberufliche Journalist und Autor Michael Schulze von Glaßer, der für seine zahlreichen Beiträge in Tages- und Wochenzeitungen weithin bekannt ist, legt mit diesem Buch eine versierte Ausarbeitung zur Militarisierung des Zivilen vor.

Der Afghanistan-Krieg, Berichte über getötete deutsche Soldaten und über getötete Zivilisten, tragen zu einer auch aktuellen Skepsis in der deutschen Bevölkerung gegenüber dem Militärischen bei (die historischen kriegerischen Erfahrungen stützen diese Perspektive). Diese Skepsis hält sich dauerhaft, wie Schulze von Glaßer anhand soziologischer Erhebungen – externer wissenschaftlicher und solcher des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr – herausarbeitet. Selbst dem Geheimdienst der USA, dem CIA, ist dies bewusst geworden, so dass in Geheimdokumenten des CIA – die auf der „Enthüllungsplattform“ Wikileaks veröffentlicht wurden – Möglichkeiten eruiert wurden, wie die Akzeptanz für den Krieg in der Bevölkerung in Deutschland (und in Frankreich) gestärkt werden könnte (S. 28). Unterdessen sind das keineswegs die einzigen Probleme, die das Erscheinungsbild der Bundeswehr in der Bevölkerung beeinträchtigen: „Die Misshandlung von Grundwehrdienstleistenden durch höherrangige Soldaten, rechtsextremistische sowie frauenfeindliche Übergriffe sind nur einige der Skandale, über die öfters in den Medien zu lesen ist“ (S. 28) und die die Stimmung in der Bevölkerung prägen.

 

So ergab eine Umfrage aus dem Jahr 2007, dass sich lediglich 25 Prozent der jungen Männer vorstellen konnten, eine gewisse Zeit lang als Soldat oder ziviler Mitarbeiter bei der Bundeswehr tätig zu sein, 27 Prozent meinten „vielleicht“, die übrigen 48 Prozent konnten sich dies überhaupt nicht vorstellen (S. 15). Besonders deutlich ist die Ablehnung bei den Abiturienten und Abiturientinnen – und das obwohl die Bundeswehr gerade hier, auf Grund kompliziert zu bedienender Waffensysteme, Bedarf hat. Abiturienten strebten zunehmend „nach Idealen wie Selbstentfaltung und Partizipation“, weshalb die militärischen Kategorien „Gehorsam, Pflichtbewusstsein und Unterordnung“ für sie „unattraktiv“ sind (S. 15). Zu diesen Ergebnissen gelangten auch neuere Ergebnisse, die nach dem „Aussetzen“ der Wehrpflicht erhoben wurden. So musste u.a. die Hannoversche Allgemeine Zeitung nach Berichten, dass selbst von denjenigen jungen Leuten, die anfangs zur Bundeswehr gingen, viele schon innerhalb der ersten Wochen aufgehört hatten, festhalten: Es sind„auffällig häufig Kündigungen aus persönlichen Gründen: Rekruten fühlten sich überfordert und mochten sich nicht an das Leben in der Kaserne und die soldatische Ordnung gewöhnen. Andere erhielten doch noch einen Studienplatz oder eine Zusage für eine Ausbildung in einem zivilen Beruf.“ (HAZ, 21.7.2011)

Junge Menschen leben demnach lieber selbstbestimmt, partizipativ – lieber „bunt“ – als soldatisch. Sie bevorzugen zivile Ausbildungs-, Studien- und Arbeitsplätze. Nur in wirtschaftlicher Notlage erscheint die Bundeswehr als Option. Schulze von Glaßer hebt heraus, dass hier somit einerseits Rekrutierungsstrategien der Bundeswehr ansetzten: Sie gingen vielfach an Arbeitsämter, um zu werben. Gleichzeitig sei das Problem damit nicht zu lösen, da hier nur eine eingeschränkte Klientel gewonnen werden könne. Um dennoch ausreichend „geeignete“ Soldaten und Soldatinnen zu gewinnen, würden die Einstellungskriterien angepasst – sie wurden „in Bezug auf soziale Kompetenz, psychische Belastbarkeit und Verhaltensstabilität abgesenkt“ (S. 17). Hier ergibt sich bereits ein erster zentraler Widerspruch zu den oftmals getätigten Außendarstellungen der Bundeswehr, die bzgl. der Auslandseinsätze „gerade die soziale Kompetenz der Soldaten“ hervorhebt (S. 17).

Schulze von Glaßer zeigt auf, dass sich durch den Nachwuchsmangel direkte Probleme für Soldaten und Soldatinnen ergeben. Während durch die Auslandseinsätze und die dortigen Erfahrungen, die Soldaten und Soldatinnen machen müssen, der Bedarf für psychologische Behandlungen zur Bewältigung von Traumatisierungen steigt, klafft gleichzeitig eine bedenkliche Lücke an medizinischem Fachpersonal. So beklagt die Bundesregierung eine „weiterhin kritisch[e]“ Situation bei der Ausstattung mit medizinischem Fachpersonal (S. 20). Diese versucht sie über „Outsourcing“ zu lösen – zivile Ärzte und Ärztinnen sollen die Betreuung übernehmen. Ähnliche Outsourcing-Maßnahmen betreffen derzeit ganze Bereiche der Bundeswehr, wie die Fahrzeugflotte.

Lösungsstrategien – Erfolg oder Misserfolg ist nicht absehbar

Outsourcing ist damit einer der wichtigen Ansätze, mit dem die Bundeswehr versucht, die Verringerung der Zahl an Soldatinnen und Soldaten abzufedern und gleichzeitig dem Problem der unzureichenden Nachwuchsgewinnung zu begegnen. Die weiteren Aktivitäten beziehen sich gerade darauf, das Ansehen der Bundeswehr in der Bevölkerung zu verbessern, bzw. die Bundeswehr zu einem selbstverständlichen Bestandteil im täglichen Straßenbild zu machen. Eine Möglichkeit bietet hier die eigenwillige Auslegung des Artikels 35 des Grundgesetzes, der die „Amtshilfe“ zwischen den Behörden des Bundes und der Länder regelt. So wurde die Bundeswehr in den vergangenen Jahren immer häufiger zur Amtshilfe im Landesinneren herangezogen – 2009 immerhin 44 mal, in den Jahren von 1996 bis 1999 war es hingegen nur jeweils ein Amtshilfe-Einsatz pro Jahr gewesen (S. 11). Auch die Zahl öffentlicher Gelöbnisse steigt rapide an. Hinzu kommt die Verleihung des vom Verteidigungsminister Jung neu aufgelegten „Verdienstkreuzes“.

Einen besonders wichtigen Eckpfeiler der Werbestrategie stellt die Rekrutierung an Schulen dar. Während nach außen gern das Bild vermittelt wird, dass es bei den Bundeswehr-Einsätzen an Schulen – Jugendoffiziere kommen in die Klassen – um eine wertneutrale Information gehe, wird aus dem „Handbuch für Jugendoffiziere“ der Werbe-Auftrag ganz klar:

„Überzeugen Sie nicht das Podium, überzeugen Sie das Publikum! Sie müssen die Diskussion nicht gewinnen! Wenn nichts von dem Thema in Erinnerung bleibt, so muss auf jeden Fall ein positiver Eindruck des Jugendoffiziers als Vertreter der Bundeswehr entstehen.“ (S. 33)

Um den Anforderungen der Werbung gerecht zu werden, werden die Jugendoffiziere mittlerweile über mehrere Monate intensiv geschult. Dabei stehen Rhetorik-Trainings, Informationen über relevante Bundeswehrthemen und Informationen über die Einstellungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen auf dem Programm. Neben knapp 100 hauptamtlichen Jugendoffizieren gibt es etwa 300 Nebenberufliche. Immer mehr Zusammenarbeitsvereinbarungen der Bundesländer mit der Bundeswehr sichern den Jugendoffizieren den direkten Zugang zu den Kindern und Jugendlichen und lassen sie vielfach auf die direkte Ausbildung von zukünftigen Lehrern und Lehrerinnen Einfluss nehmen (S. 118ff). Aber auch in den Ländern, in denen keine solchen Kooperationsabkommen existieren, ist die Zusammenarbeit mit den zuständigen Schulbehörden und Ministerien eng und vertrauensvoll, wie die Jugendoffiziere in ihrem Jahresbericht 2008 angaben (vgl. S. 37).

Neben Schulen sind Arbeitsagenturen und Hochschulen wichtige Aktionsfelder, die sich die Bundeswehr für ihre Rekrutierungen erschließt. In elf Städten unterhält die Bundeswehr feste Büros in Arbeitsagenturen, in 850 Arbeitsagenturen führt sie immerhin regelmäßige Veranstaltungen durch. Dabei werden hin und wieder Jugendliche unter Androhung von Sanktionen durch die Arbeitsagentur verpflichtet, an den Veranstaltungen der Bundeswehr teilzunehmen – selbst wenn Gewissensgründe dem im Weg stehen (vgl. S. 79ff). Auch bei Freizeitmessen, bei Jugendmessen, beim Girls‘ Day ist die Bundeswehr mit aufwändigen Ständen vertreten. Dort setzt sie ihr „Spiel“ POL&IS ein, mit dem militärische Mittel als selbstverständlicher Bestandteil internationaler Politik präsentiert werden (S. 126ff). Bei den Messen, bei Kirchentagen, Hafenfesten und Luftfahrtausstellungen sowie „Karriere-Tagen“ fährt sie hingegen auch schweres Geschütz auf: Speziell eingerichtete Trucks, Panzer, Hubschrauber et cetera gelangen hier zum Einsatz. Massiv tritt die Bundeswehr auch in zivilen Medien auf, die sich explizit an Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene richten. So sind die Zeitschriften Spießer, Unicum und Bravo beliebte Orte, um Werbeanzeigen zu platzieren, und das obwohl das Redaktionsstatut des Spießer der Werbung der Bundeswehr ausdrücklich entgegensteht (vgl. S. 178ff). Die Bravo-Gruppe ließ überdies Werbe-Pop-Ups der Bundeswehr zu und veranstaltete zusammen mit dieser die „Bundeswehr-Adventure-Games“, mit denen insbesondere junge Männer an die Armee gewöhnt werden sollen. Auch in Radio und Fernsehen versucht die Bundeswehr zu punkten, wie uns Schulze von Glaßer abschließend zu den Werbeveranstaltungen der Bundeswehr vor Augen führt.

Zivilgesellschaftliches Engagement gegen eine Militarisierung des Zivilen

Machen die Beschreibungen der Werbeveranstaltungen der Bundeswehr den Hauptteil des Buches aus und führen sie eindringlich vor Augen wie rasch und schleichend die Bundeswehrwerbung in zahlreiche Lebensbereiche Einzug gehalten hat und hält, endet das Buch auf Ausführungen zum zivilen Widerstand. Durch die immer massiver werdende militärische Durchdringung des Zivilen werden auch Kritiker_innen auf den Plan gerufen, die sich derzeit insbesondere gegen die Werbung bei jungen – oft minderjährigen – Menschen richten. So stehen insbesondere die Werbeauftritte der Bundeswehr, die an Schulen stattfinden und solche, die sich explizit an Kinder und Jugendliche richten, in der Kritik. Hier stellt Schulze von Glaßer die beteiligten Akteur_innen dar, die sich durchaus als vielseitig darstellen – so ist die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft eine der wichtigen Akteur_innen, die sich für demokratische Schulen einsetzt und den Rekrutierungsveranstaltungen der Bundeswehr widerspricht. Sie und die übrigen Aktivist_innen führen an, dass die Werbung der Bundeswehr dem Beutelsbacher Konsens widerspricht, der die Schülerinnen und Schüler vor Manipulation schützen und zu einer eigenen demokratischen Willensbildung befähigen soll. Sie argumentieren, dass die kontroversen Sichten auch bezüglich der Sicherheitspolitik am besten durch Pädagoginnen und Pädagogen erörtert werden können und nicht durch Interessensvertretungen einer Richtung.

Wer über die aktuellen massiven Probleme der Bundeswehr bzgl. der Rekrutierung von Nachwuchs und über ihre Lösungsstrategien informiert sein möchte, kommt an Schulze von Glaßers Buch nicht vorbei.

Michael Schulze von Glaßer 2010: An der Heimatfront. Öffentlichkeitsarbeit und Nachwuchswerbung der Bundeswehr. PapyRossa Verlag, Köln.

ISBN: 978-3-89438-442-5. 260 Seiten. 16.00 Euro.