Was hat historisches Gedenken mit der Gegenwart zu tun?
Gedanken zu der Gedenkveranstaltung für Deserteure am 9. Mai 2013 auf dem Fössefeldfriedhof
von Brunhild Müller-Reiß
Bei der Gedenkfeier für Deserteure auf dem Fössefeldfriedhof, derer heute und in den letzten Jahren mit der Erinnerung an das Ende des 2. Weltkrieges am 8. Mai 1945 gedacht wurde, fiel mir in der Rede von Rolf Wernstedt wieder auf, wie wenig Bezug im Gedenken und Erinnern in der Regel zu gegenwärtigem Geschehen hergestellt wird.
Wenn das Gedenken einen gesellschaftlichen Sinn hat, ist es m. E. vor allem der, die historischen Erfahrungen für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Nicht einlinig, nicht monokausal und nicht vereinfachend: Geschichte wiederholt sich nicht – aber es gibt – über Jahrzehnte, manchmal Jahrhunderte hinweg, Traditionen, Sichtweisen, gesellschaftliche Kräfte, Institutionen etc., die positiv oder negativ – Gesellschaften bis in die Gegenwart beeinflussen.
Eine davon ist nationales Denken – auch in der Extremform ‚Nationalismus‘ – und mit dieser verwandt, Patriotismus. Nun ist nicht jede ‚Heimatliebe‘ ein Übel, aber sie schließt schnell ‚Fremdes‘ aus und sie kann sehr schnell instrumentalisiert werden – bis hin zu Krieg und Verbrechen.
Bei Rolf Wernstedt kam die 1848-Bewegung als ‚Freiheitbewegung‘ daher. Das war sie zweifelsohne auch, aber wer sich Reden aus der Paulskirche anschaut, erschrickt ob des in manchen Reden schon damals vorhandenen Nationalismus und Rassismus. Diese Tradition darf nicht übersehen werden.
Und wenn als Beweis für den Missbrauch von Patriotismus gesagt wird, dass an der Wolga im 2. Weltkrieg schwerlich das Deutsche Reich verteidigt werden konnte, weil es ja offensichtlich keine gemeinsamen Grenzen gab, dann ist diese Äußerung zweifelsohne richtig, aber es gilt doch auch festzustellen, dass dies auch für gegenwärtige Kriege gilt: Wenn der ehemalige Verteidigungsminister Struck erklärte, Deutschland werde am Hindukusch verteidigt, dann gilt auch hier: Es gibt keine gemeinsame Grenze zu Deutschland: weder damals an der Weichsel, noch heute am Hindukusch.
Aber es ist kein Zufall, dass der Bezug zur deutschen Gegenwart fehlt: Herr Wernstedt spricht als Vorsitzender der ’Kriegsgräberfürsorge‘ und hält damit und als SPD-Mitglied die gegenwärtigen Kriege für gerechtfertigt, für ‚humanitäre‘ Einsätze und will sie nicht kritisieren. Und so bleiben die bei einem großen Teil der Rede Wernstedts sich aufdrängenden Parallelen zu heute ungenannt. Leider!
Für mich gilt es, genau an dieser Stelle nicht zu schweigen, sondern Parallelen und Wurzeln für vergangene und gegenwärtige Kriege sichtbar zu machen.